Fremdbestimmt, die neue Konzertreihe von Matthias Lorenz in den Jahren 2020 bis 2026.

Fremdbestimmt bedeutet:

An der bewährten Form des Solokonzertes mit Kommentaren zu den Stücken hingegen wird sich nichts ändern.

Die 6 Themen und der jeweils zuständige Komponist:
Eine Aufteilung auf die Jahre ist hier noch nicht vorgenommen. Zu jedem Thema gibt es einen kurzen Text von mir, im Laufe der Zeit wird er durch Texte der Komponisten und ihre Programme ergänzt.


Politik/Gesellschaft (Nikolaus Brass)

Konzerte:

Der Eintritt beträgt jeweils 10/6 Euro und kann entweder unter diesem Link gezahlt werden: https://paypal.me/matlorenzcello/10, alternativ lässt sich hier meine Kontonummer abrufen. Das Programmheft gibt es hier als Download.

Politik/Gesellschaft

Unlösbar ist das Individuum von der Gesellschaft, in der es lebt.

Im 20. und 21. Jahrhundert müßte man vielleicht sagen: in der es leidet.

Genauer: Unlösbar ist das Bild, welches das Individuum von sich gewinnt, von der Erfahrung der Gesellschaft, in der es sich vorfindet. In der Selbst- und Fremdrepräsentation finden wir vielleicht einen Anhaltspunkt, wie das Gesellschaftliche als ein Äußeres ins Innere des Einzelnen "wandert" oder dort sich spiegelt.

Aber in diesem Gebiet gibt es keinen einfachen Lageplan und keine klare Wegekarte. Und grobschlächtige Urteile a la Das Sein bestimmt das Bewußtsein dringen nicht sehr tief.

Aus der Biographie herleiten läßt sich unter Umständen ein möglicher Hinweis auf Vertrautheit oder Fremdheit in einem sozialen Biotop, auf örtliche Bewegung oder Konstanz, auf soziale Kontaktdichte oder Vereinzelung. Aus freiwilligen oder erzwungenen Ortswechseln ein Hinweis auf politische oder gesellschaftliche Gewalt, der jemand ausgesetzt war oder ist. Aus den Selbstzeugnissen Anhaltspunkte für Widerstand oder Anpassung.

Aber läßt sich das Wechselspiel an Selbst- versus Fremdbestimmung in einem Leben wirklich fein säuberlich bewerten und ergründen? Das nicht, aber es läßt sich wohl eine Sensibilität gewinnen für Um-Stände, die Wirken und Schaffen einer Person mit beeinflussen. Ob die betreffende Person mit ihrem Wirken, z. B. ihrem künstlerischen Schaffen, dann auch "wirklich" etwas von den Um-Ständen und deren Ein-Wirken zum Ausdruck bringen wollte, ist bei dieser Art der Betrachtung fast zweitrangig. Denn eingegangen ins Werk sind sie ohnehin, wissentlich oder unwissentlich.

In der Zusammenstellung von Kompositionen, die ich unter dem Aspekt Politik/Gesellschaft für die Konzertreihe "Fremdbestimmt" vorgenommen habe, geht es vielleicht nur am Rande (?), vielleicht gar nicht (?), vielleicht um nichts anderes (?) als um "politische" Musik. Am ehesten wird man das Politische bei Nikolaus A. Hubers "Der Ausrufer steigt ins Innere" vermuten - das aber vor allem, da Huber sich in Kommentaren und Interviews immer als ein Komponist mit politischem Anspruch geäußert hat. Wie steht es aber mit den "Vier Studien" von Bernd Alois Zimmermann, einer Musik des Verstummens? Ist dieser Gestus der Musik ein Ausdrucks-Äquvalent für das endgültige Verstummen des Autors in einer nicht mehr ertragbaren Lebenswelt eines materiell saturierten aber ideologisch korrumpierten Landes? Wir wissen es nicht. Wir sind aber achtsam und offen dafür, dass dieses Verstummen eventuell auch "in Wirklichkeit" ein lautes Nein-Sagen bedeuten könnte. Mit Kompositionen von Younghi Pagh-Paan, Uros Rojko und György Ligeti kommen Autorinnen und Autoren in den Blick, deren Leben von Exil oder Migrations-Erfahrungen (mit)bestimmt ist. Hier liegt also ein Gesellschaftliches, das einwirkt auf das Leben und Arbeiten eines Künstlers, offen zu Tage. Interessant wäre es, den Spuren nachzugehen, die sich in Ligetis Sonata für Cello solo (1948 - 53) niedergeschlagen haben aus seiner Nachkriegserfahrung im nun sozialistisch organisierten Ungarn. Oder wie Herkömmliches (im wahrsten Wortsinn) sich manifestiert in "AA-GA I" der koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan, oder im lakonischen "Ja" des slowenischen Komponisten Uros Rojko, der seit Jahren zwischen Deutschland und seiner Heimatstadt Ljubliana pendelt. Und schließlich bleibt zu fragen, wieviel oder wie wenig "DDR-Musik" in der "Cellomusik" von Friedrich Goldmann aus dem Jahre 1974 liegt, jenseits aller spieltechnischen, formalen und analytischen Perspektiven.

Also erscheint die Suche nach dem Politisch-Gesellschaftlichen in der Kunst keineswegs als obsolet. Man kann sich von ihr nicht die Antwort auf alle Fragen erwartet. Allerdings kann sie dazu dienen, der Wirklichkeit - und damit auch der widersprüchlichen Wirklichkeit eines Kunstwerks und seines Autors - (besser) gerecht zu werden.

(Nikolaus Brass)

Homepage Nikolaus Brass

Programm:

Zu Recht behaupten Viele, dass Kunst, und damit auch Musik, immer politisch ist. Genauso zu Recht wird aber in Frage gestellt, ob es Musik möglich ist, durch Musik eine eindeutige (politisch-gesellschaftliche) Botschaft zu vermitteln. Rechte und linke Rockmusik etwa unterscheiden sich mehr durch ihre Texte, als die eigentliche Musik.

Wie sehr kann es Neuer Musik trotzdem gelingen, politische Prozesse aufzugreifen? Gibt es Stücke, die bestimmte Fragestellungen eindeutig formulieren oder von denen sich Musiker sicher sind, dass die Besonderheiten eines Werkes deutlich Fragen in Richtung Gesellschaft und Politik stellen? Unterscheidet sich Musik "politischer" Komponisten (wie Nono, Nikolaus A. Huber, Henze) aus diesem Grund von der ihrer Kollegen?

(Matthias Lorenz)


Werk/Prozess (Benjamin Schweitzer)

Konzerte:

Einen kurzen Einblick in das Programm gibt es hier: https://youtu.be/-RfEIr0hoWE

Der Gegensatz von "Werk" und "Prozess" darf durchaus hinterfragt werden. Jedes einzelne Werk ist immer auch Prozess: Sei es als Partitur (Werk1) aufgrund seiner Entstehungsgeschichte, die niemals "momenthaft" sein kann und immer Offenheiten und Verzweigungen enthält, auch wenn uns am Ende eine vermeintlich endgültige Version entgegentritt. Doch auch das Werk als klingendes Ergebnis der Probenarbeit (Werk2) ist zugleich abgeschlossen und Prozess. Viele besonders elaborierte, "werkhaft" vollendete Kompositionen sind in jahre- oder jahrzehntelangen Prozessen entstanden und damit nur eine Auswahl aus dem für die Komposition erstellten, verwendeten, ausgewählten und verworfenen Materialien, und jede noch so "prozesshaft" offen sich gebende Komposition ist (spätestens) im Augenblick ihrer Aufführung ein "Werk", auch wenn es sich im Falle etwa einer grafischen oder aleatorischen Komposition nie auch nur ansatzweise reproduzieren lässt.

Darüber hinaus ist jedoch das Werk im Sinne des Gesamtwerks einer künstlerisch tätigen Persönlichkeit (Werk3) seinerseits ein Prozess, der die komplette kreative Biographie umfasst und aus dem auch jedes wie auch immer zwingend ausnotierte und abgeschlossen erscheinende Einzel-Werk1 nur ein fragmentarischer Ausschnitt ist.

Auf dieser Dialektik beruht die Programmkonzeption. Sie enthält zunächst einmal jeweils zwei Stücke von den drei ausgewählten Komponistinnen, gewissermaßen als "Stichproben" oder "Abtastmomente" des gesamtwerklich-biographischen Kontinuums, als Ausschnitte aus dem Prozess, der sich als Werk3 manifestiert. Dabei schon mag sich möglicherweise der Eindruck einstellen, dass zwischen den frühen und späteren Stücken des vermeintlich prozesshaft in einem großangelegten "Flow" komponierenden Scelsi größere Unterschiede bestehen als zwischen denen der eindeutiger einer "Werk"-Ästhetik zuzuordnenden Mamlok und Shapey. Dahinter verbergen sich aber noch weitere Nebenaspekte: Scelsi selbst sah sich als Wiedergeburt einer früheren Existenz, mithin seinerseits nur als Teil eines größeren Prozesses. Ursula Mamlok wiederum fand in Ralph Shapey den Lehrer, der sie am besten in jenes (sei es tatsächliche oder vermeintliche) Kontinuum einführen konnte, als das sich die abendländische Musik für uns darstellt, und das im Fall von Mamlok und Shapey über Wolpe, Schönberg, Busoni, Liszt, Beethoven, Bach bis zur frühen Vokalpolyphonie zurückreicht. Shapeys Krosnick Soli ist Teil eines musikhistorischen Prozesses, weil es auch auf die Interpretationsgeschichte, also auf den Werk2-Aspekt, veweist (und Joel Krosnick spielte wiederum die Uraufführung von Mamloks Composition).

Zudem kommen in den Stücken selbst verschiedene Aspekte der Idee von Prozessualität zum Tragen: in der Variationsform (bei Mamloks Fantasy Variations), in der Überlagerung dreier Ebenen oder Einzelwerke zu einem Dritten (in Shapeys Solo Duo Trio) und natürlich in Scelsis Werken, die durch ihre Gestalt postulieren, weder Anfang noch Ende zu haben, und doch natürlich in jeder Aufführung ebenso beginnen und enden müssen wie jede andere Komposition auch. Die Anspielung auf die Lebensalter in Scelsis Trilogia mag als weiterer Verweis auf Prozesse ebenso wie auf abgeschlossene Stadien verstehbar sein (im alten Rom vermochte man bekanntlich die Lebensalter sehr genau in Zwanzigerschritten zu unterteilen).

Die "Gebrauchsanweisung" für das Programm reflektiert all dies in ihrer Offenheit dahingehend, wie der Cellist mit den Werken und ihren Grenzen umgehen darf bzw. muss - von der strikt in eine Programmfolge mit Pause unterteilten konventionellen Konzertform bis zum durchgehenden Klangband, in dem sich Werkgrenzen nicht mehr unterscheiden müssen, ist alles möglich.

(Benjamin Schweitzer)

Homepage Benjamin Schweitzer

Programm:

Manche Musikstücke sind eindeutig als Prozess gedacht, andere klar als fertiges Werk. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, in denen etwas, das man für ein fertiges Werk hielt, doch noch verändert wird (kurz nach der Uraufführung oder auch Jahrzehnte später). Und von prozesshaft geplanten Werken gibt es gelegentlich so überzeugende Fassungen, dass sie Werkcharakter verliehen bekommen.

Gibt es den Unterschied zwischen Werk und Prozess überhaupt? Ist Musik als Kunst abseits von vorproduzierter Musik durch die Rolle des Interpreten nicht ohnehin immer Prozess, nie nur Werk? Und was ist mit dem Publikum, das einen Schritt im Prozess so hört, wie es auch ein fertiges Werk hören würde? Macht sich der Unterschied also außer im Programmhefttext bemerkbar? Und wenn ja wie?

(Matthias Lorenz)


Wissenschaft (Ian Wilson)

Konzerte:

Der Eintritt beträgt jeweils 12/8 Euro und kann unter diesem Link gezahlt werden: https://paypal.me/matlorenzcello/12, oder per Email meine Kontonummer erfragen.

Die Wissenschaft ermöglicht es den Menschen, die Welt um uns herum zu verstehen. Die Wissenschaft gibt uns die Werkzeuge, um einen Sinn darin sehen, wie wir und die Welt funktionieren. Sie zeigt, wo wir herkommen, wie alles begann - in der Tat, die Wissenschaft sagt uns auch, wie alles enden wird [Idee erforscht in Wilson/A synder'd vastness].

Die Wissenschaft deckt die Geheimnisse hinter den Prozessen des Lebens auf und gibt uns das Wissen, um diese Prozesse zu verstehen [Korać/Zersetzung // Mulvey/Syzygy (hat sowohl astronomische als auch biologische Bedeutungen)]. Wissenschaft selbst ist der Prozess des Hinterfragens und Erforschens, des Drängens um Grenzen zu durchbrechen und Neues zu entdecken [Saunders & Lim, Erkundungen des Instruments)].

Mein Programm spiegelt all diese Aspekte der Wissenschaft wider und beinhaltet sogar eine Verbindung zu den literarischen und filmischen Genres (Science Fiction!) die wissenschaftliche Ideen aufgreifen und weit über die bisher bekannten Möglichkeiten hinaus fortschreiben [Lim/Invisibility].

(Ian Wilson)

Homepage Ian Wilson

Programm:

Im Mittelalter gehört Musik innerhalb der septem artes liberales ins Quadrivium, gemeinsam mit Mathematik, Arithmetik und Astronomie. Im Trivium stehen dem Grammatik, Rhetorik und Dialektik gegenüber. Erstaunlich ist das, weil es beim Trivium eigentlich um die - modern gesprochen - Geisteswissenschaften geht, die Musik aber zusammen mit Naturwissenschaften steht. Nach heutigem Verständnis hätte man die Einteilung eher anders vermutet.

In unserer Kultur sind Wissenschaft und Technik aneinander gekoppelt. Ist damit das Aufgreifen neuer Techniken auch eine Bezugnahme auf Wissenschaft? Ist das Hörbar-machen großer Datenmengen auch schon Musik? Lohnt es sich überhaupt, Wissenschaft in Musik einfließen zu lassen? Wo zeigt sich eine Verbindung von Musik und (Natur-) Wissenschaft in heutigen Stücken?

(Matthias Lorenz)


Wirtschaft (Stefan Streich)

Homepage Stefan Streich

In unserer Gesellschaft leben Musiker (es sei denn, sie haben aus anderen Quellen ausreichende Mittel zur Verfügung) im Rahmen des Kulturbetriebes. Die Auswahl von Kompositionsaufträgen, von gespielten Stücken und Programmkonzepten ist nicht zuletzt immer auch von wirtschaftlichen Fragen abhängig. Bis hin zur Frage, ob alle am Musikbetrieb Beteiligten dem einzelnen Projekt ausreichend Zeit widmen können oder wirtschaftliche Gründe sie zwingen, jedes Projekt anzunehmen, dass sich nur anbietet (und damit zu viel zu machen). Oder dem Aspekt, dass bestimmte Anfragen ein "Ja" erfordern, um den eigenen Ruf zu stärken oder zu erhalten, was wiederum auch finanzielle Konsequenzen hat.

So bieten sich (mindestens) zwei Felder, die in Musik reflektiert werden könnten: Wirtschaft als ein Gesamtgefüge einerseits, andererseits die spezifische Frage nach der wirtschaftlichen Abhängigkeit des eigenen Tuns.


Ausdruck (Petr Bakla)

Homepage Petr Bakla

Kunst hat sicher mit Ausdruck zu tun. Bei Musik wird das gerne auf den Ausdruck von Gefühlen reduziert. Dabei kann Ausdruck ja sehr viel mehr bedeuten. Man kann einer Meinung Ausdruck verleihen und es gibt mathematische Ausdrücke, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen.

Wie kann Musik das, Gefühle ausdrücken? Kann sie dabei präzise sein, oder bleibt sie in Allgemeinem stecken? Und was kann sie über Gefühle hinaus noch ausdrücken? Wie eindimensional ist die Idee des Gefühlsausdrucks möglicherweise?


Sound (Friedemann Schmidt-Mechau)

Anders als bei der Sprache, die mit der Schriftlichkeit eine Verwendung gefunden hat, die auf die Stimme und ihren Klang verzichtet, ist der "sound" in der Musik elementar. Bei jedem musikalischen Lernen und Üben wird am Klang des Instruments, bzw. der Stimme gearbeitet, mit jeder Auswahl und Kombination bestimmter Instrumente oder Stimmen und Stimmlagen, mit jeder Verwendung eines Instruments oder einer Stimme in einer bestimmten Tonlage und Dynamik wird über den Klang entschieden. Welches Gewicht die Entscheidung über den Klang gegenüber anderen Aspekten eines Musikstückes hat, ist naturgemäß von Stück zu Stück und von Komponist zu Komponist unterschiedlich. In den seltensten Fällen lässt sich analytisch im Nachherein feststellen, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Kontext die Entscheidung über die Klanglichkeit eines Stückes während des Kompositionsprozesses gefallen ist.

Spätestens mit Luigi Russolos Intonarumori und Varèses Ionisation, erst recht aber mit der Entwicklung elektronischer Klangerzeugung hat sich das Feld der musikalisch verwendbaren Klänge auf alles Hörbare ausgedehnt. Wo "sound" nicht nur als Erkennungsmerkmal eines bestimmten Produktes dient - sei es der spezifische Ton einer Pop-Gruppe, sei es die Automarke mit Türgeräusch-Design - erfordert die Hervorhebung eines "sounds" als primäres Spezifikum einer Musik meistens eine Reduktion in anderen Bereichen. "Sound culture", "sound art", "Klangkunst" sind Begriffe, die solche Reduktionen insbesondere im Bereich der elektronischen Musik anzeigen sollen. Aber natürlich sind die Übergänge fließend.

Alvin Lucier ist ein Komponist, der vor allem an akustischen Phänomenen interessiert ist. Sein Stück "Glacier" basiert auf einer Graphik der Entwicklung des Abschmelzens von 30 Gletschern zwischen 1980 und 2004. Die Kurve ist direkt in eine absteigende Tonkurve vom f1 bis zum C umgesetzt. Für jedes Jahr schreibt er eine Minute Spielzeit vor. Das Stück besteht also aus einem sehr langsamen, nicht ganz gleichmäßigen Glissando über die vier Saiten des Cellos, die gleichmäßig und ununterbrochen gestrichen werden. Mehrere Aspekte von "sound" werden in diesem Stück hörbar. In dem verwendeten "Normal"-Klang des Cellos werden viele kleine Einzelheiten deutlich: Jede Saite klingt ein bisschen anders, man hört die Unterschiede zwischen gegriffenen und leeren Saiten und zwischen Auf- und Abstrich, die Bogenwechsel werden zu Ereignissen. Dazu kommen die Resonanzen des Raums, der auf jede Tonhöhe ein wenig anders reagiert.

Johannes Schöllhorn arbeitet ähnlich reduziert, weniger kontinuierlich, trotzdem auch mit einer langgezogenen, fast unmerklichen Entwicklung. "Grisaille" bezeichnet eine Malerei, die sich auf Grau, Weiß und Schwarz beschränkt. Vor allem in der mittelalterlichen Tafelmalerei wurde diese Technik angewendet. Ihre Schattenwirkung führt zu einer fast räumlich wirkenden Darstellung. Schöllhorns Stück weist einen sehr langsamen Puls auf, der durch kleine Figuren oder Liegetöne markiert ist. Verwendet er am Anfang überwiegend Flageolett-Töne und wenige am Steg gestrichene Töne, verschiebt sich diese Klanglichkeit über das ganze Stück verteilt nach und nach zu Tönen, die über dem Griffbrett gestrichen sind, die voller, weicher und weniger obertonreich klingen.

Mit Michael Maierhofs "splitting 27" verlassen wir den Bereich der "normalen" Celloklänge. Er verwendet einen "Splitter" - ein Plastikglas mit mehreren freischwingenden Glasmurmeln - der als Verfremder des Klanges verwendet wird. Damit erzielt Maierhof Flächen von Spaltklängen, die in sich reibend, klirrend, britzelnd, knarrend gebrochen sind. Diese Flächen ordnet Maierhof rhythmisch zu längeren Prozessen. Die Charakteristik seiner "sounds" erinnert an elektronisch erzeugte Klänge.

Auch "Morgenlachen" weist ähnliche Klänge auf, die hier allerdings ohne Hilfsmittel nur mit dem Cello und dem Bogen erzeugt werden und dadurch deutlich leiser bleiben. Schmidt-Mechau zerlegt hier die üblichen Spielbewegungen des Cellospiels und setzt sie neu zusammen, so dass sich ganz ungewohnte Bewegungsabläufe ergeben. Er notiert nur die Bewegungen, die "sounds" selbst bleiben so ein Ergebnis, das von Spieler zu Spieler variieren kann.

Die uruguayische Komponistin, Graciela Paraskevaídis, bleibt mit ihren Kompositionen nah an den sozialen und politischen Zuständen unserer Gegenwart und sucht mit ihren "sounds" diese Verbindung deutlich werden zu lassen. In ihrer Komposition "... Il remoto silenzio" verwendet sie Ausschnitte aus zwei Gedichten von Cesare Pavese als poetischen Bezug:

... Il remoto silenzio
... muto, nel buio

Ci saranno altri giorni,
ci saranno altre voci.
... Die ferne Stille
... stumm, im Dunkeln

Es wird andere Tage geben,
es wird andere Stimmen geben.

(Friedemann Schmidt-Mechau)

Homepage Friedemann Schmidt-Mechau

Programm:

Wir alle haben eine Vorstellung davon, wie ein Cello klingt. Unabhängig davon, ob das Cello "vertraut" benutzt wird oder sogenannte neue Spielweisen eine Rolle spielen oder es als Experimentierfeld für bisher ungehört Klänge genutzt wird: Vielleicht gerade weil ich Cellist bin, bin ich immer wieder durch den Celloklang zu verführen.

Wo steht der Sound beim Komponieren beziehungsweise beim fertigen Stück? Ist er sozusagen die Oberfläche, die aus einer tieferliegenden Struktur resultiert? Oder ist er der Ausgangspunkt, der aus sich heraus eine bestimmte Struktur des Werkes gebiert? Gibt es Unterschiede zwischen Stücken, die vom Einen oder vom Anderen ausgehen - kann man das dem fertigen Stück überhaupt noch anhören? Kann der reine Klang zum Träger von Inhalten werden?

(Matthias Lorenz)


Homepage Matthias Lorenz