Musik und Mathematik: Iannis Xenakis - nomos alpha (1965)

In seinem Text "Vers une philosophie de la Musique" (1968) geht Iannis Xenakis davon aus, dass es zwei Strukturen gibt, innerzeitliche und außerzeitliche. An einem Beispiel aus der Musik: Eine Tonleiter ist eine außerzeitliche Struktur, eine damit gebildete Melodie eine innerzeitliche. In den letzten Jahrhunderten, so Xenakis, hat sich das Augenmerk immer mehr auf die innerzeitlichen Strukturen verlagert, die wichtige Frage nach den außerzeitlichen Strukturen ist darüber in den Hintergrund getreten. Dabei steht uns mit der Mathematik ein universelles Werkzeug zur Verfügung, daß die Beschäftigung mit den außerzeitlichen Strukturen ermöglicht und uns alles an die Hand gibt, um aus ihnen auszuwählen.

Seine beiden entscheidenden Werkzeuge dazu sind die Siebtheorie und die Gruppentheorie. Wir werden also einen Exkurs in die Mathematik unternehmen:

Die Siebtheorie wählt aus einer vorgegebenen Menge von Elementen bestimmte aus, beispielsweise das Sieb 3,0 beginnend mit Element 0 jedes dritte.

Abbildung 1

Mit den drei Funktionen der Zusammensetzung (∧), der Überschneidung (∨) und des Gegensatzes ( ) lassen sich zum Beispiel aus den 12 chromatischen Stufen auch unsere gewohnten Tonleitern erstellen.

Die Formel für eine Dur Tonleiter beispielsweise lautet:

(3,2 ∧ 4,0) ∨ (3,1 ∧ 4,1) ∨ (3,2 ∧ 4,2) ∨ (3,0 ∧ 4,3) Siehe Abbildung 2

Die Entscheidung, dabei vom Halbton als Schrittweite auszugehen dient nur der Übersichtlichkeit, genauso kann man aber auch Vierteltöne oder noch feinere Unterteilungen nehmen. Und auch in anderer Hinsicht ist die Methode natürlich flexibel: Auch Xenakis benutzt als Beispiel die Tonhöhen, da sie und die Sprünge dazwischen so leicht wiederzuerkennen sind. Natürlich läßt ein solches Verfahren sich aber auf jeden beliebigen Parameter übertragen.

Das mag zunächst wie eine mathematische Spielerei aussehen, hat aber Konsequenzen. Eine solche mathematische Ableitung erleichtert einen nüchterneren Blick auf "unsere" Tonleiter: Sie ist eine Struktur unter vielen und wenn man nur einen einzelnen Parameter ändert, landet man bei einer ganz anderen Tonleiter - die aber die gleiche Berechtigung hat.

Grundsätzlich dient die Siebtheorie einer Auswahl von einzelnen Elementen aus einer vorgegebenen Menge - natürlich nicht nur aus Tonhöhen.

Die Gruppentheorie: Elemente bilden mathematisch eine Gruppe, wenn sie drei Eigenschaften haben.

∘ steht dabei für eine beliebige Verknüpfung. Beispiele für Gruppen:

Die Menge Z der ganzen Zahlen bei der Verknüpfung "+" (neutrales Element ist die 0, invers ist jeweils mit dem anderen Vorzeichen).

Die Menge Q der rationalen Zahlen bei der Verknüpfung "+" (neutrales Element ist die 0, invers ist jeweils mit dem anderen Vorzeichen) ohne Null bei der Verknüpfung "*" (neutrales Element 1, invers jeweils 1/n).

Eine ebensolche unendliche Gruppe bilden die Intervalle bei der Verknüpfung "+". Das neutrale Element ist das unisono (die Prim). Damit lassen sich alle Erweiterungen, die die Algebra von solch einfachen Gruppen aus macht, mit einem beliebigen Tonsystem ebenso nachvollziehen. (Um ganz genau zu sein muß man trennen in den Körper der resultierenden Tonhöhen und den Vektorraum der Intervalle, mit denen man sich bewegt. Und physikalisch haben Tonhöhen nach unten eine Begrenzung.)

Dies sind alles Beispiele für unendliche Gruppen. Es gibt aber auch endliche. Zum Beispiel (wenn man bereit ist von Oktavierungen zu abstrahieren) die Abfolge der 12 Töne unseres wohltemperierten Tonsystems, verbunden mit den 12 aufsteigenden Intervallen von Prim bis großer Septim. Mathematisch: M = {0, 1, 2, ..., 11} +mod12. Das neutrale Element ist dann die Prim, das inverse Element jeweils das Komplementärintervall.

Genau das gleiche hätte man, wenn man sich ein Tortenstück vorstellt, das um seine Spitze herum jeweils um 30° gedreht wird. Es gibt 12 mögliche Winkel für die Drehung (0*30° bis 11*30°), neutrales Element ist 0*30°, das inverse jeweils zu 1 die 11, zu 2 die 10 etc. Noch etwas überschaubarer wird es, wenn man sich ein Quadrat und seine Abbildungen auf sich selbst vornimmt, die jeweils durch Drehung um 90° erreicht werden können.

Abbildung 3 zeigt die 4 so erreichbaren Positionen. Auch diese Drehungen bilden wiederum eine Gruppe. So, wie ich beispielsweise von A nach D gedreht habe, kann ich auch von D aus drehen und lande bei C. Eine Übersicht dieser Kombinationsmöglichkeiten bietet der grau unterlegte Teil von Abbildung 4.

Nur zur Wiederholung: Das neutrale Element ist A, Assoziativität ist gegeben (A∘C)∘D=A∘(C∘D)=B, zu jedem Element gibt es ein inverses Element, das es wieder zu A macht.

Der weiße Teil von Abbildung 4 zeigt die Erweiterung an Möglichkeiten, wenn ich zusätzlich auch noch die Spiegelung um die vertikale Achse ermögliche (aus A wird dann A').

Bezeichnet man die Ecken mit 1, 2, 3 und 4 (von oben, dann von links nach rechts, dann unten) wie es in Abbildung 3 für die Positionen A-D steht, so ergeben sich als Abfolgen für die 8 Positionen die Zahlen der rechten Tabelle von Abbildung 4.

Was ist damit gewonnen? Leider habe ich nichts gefunden, was die Gruppentheorie auf ein handgreifliches Alltagsbeispiel anwenden würde. Was ich daran aber einleuchtend finde ist, daß hier aus den 24 möglichen Permutationen der Zahlen 1-4 acht nicht einfach beliebig herausgenommen sind, sondern daß damit eine Auswahl von acht aufeinander bezogenen Permutationen erstellt ist. Und wenn ich B mit C verknüpfe (also ursprünglich die Drehung um 90° mit der um 180°), lande ich von 3, 1, 4, 2 durch 4, 3, 2, 1 bei 2, 4, 1, 3.

Die Siebtheorie, wie gesagt, wählt Elemente aus einer Menge aus, die Gruppentheorie schafft ohne unter den Elemente eine weitere Auswahl zu treffen, eine Verknüpfung zwischen ihnen.

Bei Xenakis geschieht das weniger anschaulich - dafür aber auch interessanter. Er verläßt den zweidimensionalen Raum. Ein Würfel lässt sich in 24 verschiedene Positionen bringen (zur Vorstellung: jeweils 1-6 nach vorne schauend, dann kann man ihn von jeder dieser Positionen aus noch 3 Mal drehen, also 6*4=24 Positionen). Der Würfel hat 8 Ecken, die sich wieder numerieren und ebenso wie bei dem Beispielquadrat als Zahlen ablesen lassen. 8 Zahlen lassen sich in 40320 Folgen anordnen, die jetzt eben auf 24 reduziert sind.

Genau das ist, was Xenakis in seiner Vorbereitung zur Komposition von nomos alpha getan hat. Ebenso wie bei dem Beispiel mit dem Quadrat, läßt sich auch hier wieder eine Tabelle der verschiedenen Verknüpfungen erstellen, die als Abbildung 5 zu finden ist. Die große Gruppe aller Rotationen hat noch zwei Untergruppen, einmal aus I-C gebildet, dann aus I-L2. Schließlich lassen sich die einzelnen Positionen zusammenfassen zu denen I-L2 als a und Q1-Q12 als q. Dann ergibt sich Abbildung 6, wiederum mathematisch eine Gruppe.

Nebenbei ist das sicherlich auch ein augenzwinkernder Spaß: Für ein Stück, das das genaue Gegenteil von Zufallsmusik sein wird, benutzt Xenakis gerade einen Würfel, dessen lateinischer Name Alea der Zufallsmusik den Namen Aleatorik eingebracht hat.

Was wir bis hierher haben ist ein strukturiertes Feld von Möglichkeiten, es bleibt aber noch die Frage, wie man damit umgeht. Als erstes stellt sich die Frage der Reihenfolge. Xenakis greift dafür auf Fibonacci zurück, dessen Reihe wir vor allem mit der Funktion "+" auf der Menge der natürlichen Zahlen kennen (also 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8 etc.). Allgemein läßt sie sich so formulieren: Rn-2 ∘ Rn-1 = R. Die Tabelle in Abbildung 7 zeigt die Fibonacci-Reihe jeweils beginnend bei D im Feld der Würfelrotationen. Insgesamt gibt es eine Möglichkeiten mit 2 Schritten bis zur Wiederholung, eine mit 5, zehn mit 6, drei mit 10, drei mit 16 und schließlich 9 mal 18 Schritte. Zwei dieser längsten Ketten hat Xenakis ausgewählt, D-Q3 und D-Q12.

In der Abfolge der 18 Varianten gibt es jeweils sechs Dreiergruppen: Eine Position aus dem Bereich I-L2 wird gefolgt von zwei aus dem Bereich Q1-Q12. Ebenso hat nomos alpha 6 Teile. Die Festlegung der Sechsteiligkeit ist also nur sekundär eine Entscheidung, primär eine Folge der mathematisch erarbeiteten Struktur. Nach jedem dieser Teile gibt es einen kurzen weiteren Teil, der anderen Strukturierungen folgt.

In Abbildung 8 sind die beiden Übersichten zu finden, welche Art von Klängen Xenakis benutzt (das bestimmt die erste Reihe der Rotationen) und welche Dauer, Lautstärke und Dichte der jeweilige Teil hat. Für beides gibt es jeweils 3 verschiedene Lesarten (als α-β-γ bezeichnet), wobei sich die rechte Tabelle nur in Dichte und Dauer unterscheidet. Die 6 Teile des Stückes haben die Abfolge β-γ-α-β-γ-α. Wenn also die Kombination Q7, Q4 wieder auftaucht (wie auch Q11, Q8 und Q1, Q11) ist die Vorgabe trotzdem eine andere.

Dazu kommt natürlich noch die Frage der Tonhöhen. Hier benutzt Xenakis wie nicht anders zu erwarten, die Siebtheorie, ausgehend vom Viertelton als Schritt. Die genaue Konstruktion des Siebes, das er dafür benutzt, ist mir nicht klar geworden. Sein Aufbau ist aber im Prinzip wie der des Siebes für Dur-Tonleitern, allerdings mit verschiedenen Variablen:

L(m,n)=(n,i ∨ n,j ∨ n,k ∨ n,l) ∧ m,p ∨ (m,q ∨ m,r) ∧ n,s ∨ (n,t ∨ n,u ∨ n,w)

Für jeden der sechs Abschnitte gibt es ein eigenes Sieb, die Parameter des jeweils folgenden Siebes ergeben sich aus dem vorher benutzten.

Jeweils zu Anfang eines der drei Teile eines Abschnittes ist nicht nur die Lesart angegeben (am Anfang also β), sondern auch (wie auch zwischendrin) die Würfelrotationen und die Variablen m und n des Siebes. (Für den 2. Teil 13, 11, für den 3. Teil 11,5 etc.)

Bis hierher ist der Aufbau des Stückes nicht nur ganz klar gehalten, sondern auch gut dokumentiert. Es ergibt sich daraus eine Komponieranweisung wie: "eine Aktion in dieser Gestalt, mit einer bestimmten Dauer, Lautstärke und Ereignisdichte". Die Auswahl der Tonhöhen ist für einen ganzen Teil bestimmt. Wie aber Xenakis dann die Tonhöhen für die einzelnen Partikel ausgesucht hat, wie er zu den jeweiligen Spielarten und Dynamikentwicklungen gekommen ist, das bleibt leider unklar.

Wenden wir uns also lieber der Frage zu, was Xenakis denn nun zu solchem Komponieren veranlasst hat.

Im bereits erwähnten Text "Vers une philosophie de la Musique" (1968) beginnt Iannis Xenakis mit einer langen Ableitung aus der griechischen Philosophie: Der eigentliche Beginn unserer Zivilisation war der Schritt zur vernunftmäßigen Erklärung der Welt, der vor gut 2500 Jahren in Ionien gemacht wurde. Eine Entwicklung die, so schreibt Xenakis 1968, alle Mysterien und Religionen übertrumpft und nie so universell war wie heute: "die U.S.A, China, die Sowjetunion, Europa, die aktuell größten Protagonisten, erneuern sie mit einer Homogenität und einer Uniformität, die ich geradezu als beunruhigend bezeichnen möchte."

Detaillierter macht Xenakis diese Entwicklung an zwei Philosophen fest.

Zunächst an Pythagoras. Die Dinge sind Zahlen oder alle Dinge sind mit Zahlen versehen oder alle Dinge verhalten sich wie Zahlen, je nach der Entwicklungsstufe der pythagoräischen Lehre.

Xenakis' anderer Bezugspunkt ist Parmenides. Das Sein ist Eins, es ist alles und es ist fortgesetzt. Es gibt kein Nicht-Sein. Wobei vor allem die Begründung dafür Xenakis interessiert: "Welches Bedürfnis hätte es (das Sein) dazu bringen sollen, etwas früher oder etwas später zu beginnen, wenn es aus dem Nichts gekommen wäre?"

Die zunehmende Digitalisierung unserer Welt wie auch die immer stärker werdende Bewertung allen Seins nach seinem zählbaren Geldwert lassen sich ebenso als eine Auswirkung von Phytagoras sehen, wie der Satz von der Erhaltung der Energie sozusagen die physikalische Formulierung der Überlegung von Parmenides ist.

Kurz zusammengefasst brauchen wir also einen Grund, um die Dinge zu verstehen und wir können uns mit Hilfe von Zahlen einen Zugang zu den Dingen schaffen. Wir leben nach wie vor in einem pythagoräisch-parmenidischen Zeitalter.

Implizit läuft das alles auf Determinismus hinaus, auf den LaPlaceschen Dämon, der, wenn er die Orte und Bewegungen aller Atome kennen würde, die Zukunft vorhersagen könnte. Für die Freiheit des menschlichen Willens ist in dieser Sicht kein Platz.

Der Gegenstrang wird durch Epikur begründet, der die Atomtheorie Demokrits aufgreift, aber davon ausgeht, dass es winzige, zufällige Störungen sind, die verschiedene Atome zusammenfügen und so Gegenstände entstehen lassen.

Wie wir zwischen diesen beiden Polen stehen illustriert Xenakis an der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Das nächste Ergebnis eines Münzwurfes werden wir nie vorhersagen können, trotzdem können wir nach dem Gesetz der großen Zahl sagen, dass unter 1000 Würfen etwa 500 für jede Seite sein werden.

Zwei Fragen ergeben sich für Xenakis daraus:

1. Welche Konsequenz muss die Reflektion des pythagoräisch-parmenidischen Feldes für musikalische Komposition haben?

2. Auf welchem Weg.

Seine Antworten:

Zu 1. Das Nachdenken über das was ist führt uns direkt zur Rekonstruktion, soweit möglich ex nihilo, der Grundlagen der Musik und vor allem dazu all das zu verwerfen, was nicht hinterfragt wurde.

Hierher gehört auch der eingangs erwähnte Unterschied zwischen Strukturen innerhalb und außerhalb der Zeit. Eine Rekonstruktion beinhaltet selbstverständlich ebenso die Strukturen außerhalb der Zeit (also z.B. mittels Siebtheorie neue Tonleitern).

Zu 2. Diese Rekonstruktion wird durch moderne axiomatische Methoden inspiriert sein.

Nomos alpha stellt einen Extrempunkt im Schaffen Xenakis' dar. In der Literatur wird es als deterministische Musik beschrieben. Bis zu welchem Punkt das aber (und wie) durchgeführt wurde, bleibt leider offen.

Matthias Lorenz, 2003/2021