Bach.heute II - Wann fängt etwas an, wann hört es auf?

Bei Johann Sebastian Bach kommt es oft vor, daß die Endtöne einer Figur schon wieder die Anfangstöne der nächsten sind. In der 2. Suite für Violoncello solo gibt es das aber noch häufiger als gewöhnlich. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa gleich der Anfang des Prélude. Im 4. Takt, also nach der höchsten Stelle läuft die Melodie auf den Grundton hin, kommt dort aber nicht an, sondern wird von Bach gleich wieder weitergeführt.

Eine allgemeine Formulierung dieses Themas, die über die Frage der Melodik hinausweist, ist: "Wann fängt etwas an, wann hört es auf?" So formuliert eröffnen sich nicht nur interessante Perspektiven auf Bach, sondern eben auch auf zeitgenössische Musik.

Unter diesem Blickwinkel fällt eine Besonderheit der Sarabande der 2. Suite besonders ins Auge. In ihr ist die Grundtonart d-moll bereits 4 Takte vor dem Schluß erreicht. Eigentlich ist das ein untrügliches Zeichen dafür, daß das Stück zu Ende ist. In der Tat könnte man den Satz dort beenden und nur Kenner der Suite würden merken, daß etwas fehlt. Dieses Ende ist aber der Anfang für einen großen Aufbau, der dann zum tatsächlichen Schluß führt. Etwas Vergleichbares gibt es in keinem anderen Suitensatz und natürlich stellt sich auch damit die Frage nach Anfang und Ende, hier aber nicht nur im melodischen sondern genauso im formalen Bereich. Wo fängt etwas an, wo hört es auf? Nicht unbedingt da wo man es erwarten würde.

Hemiole Noch spannender ist das Menuett I: In barocker Musik ist eine rhythmische Figur sehr verbreitet, die Hemiole. Bei einer Hemiole werden zwei Dreiertakte durch ihre Betonung zu einem größeren Takt zusammengefaßt. Das Schema zeigt oben die normalen Takte, unten den großen Takt, in dem nur noch jeder zweite Schlag eine Betonung trägt. Eine solche Hemiole kommt klassisch im drittletzten und vorletzten Takt eines Stückes vor, sie ist ein gängiges Mittel, das Ende eines Satzes oder Abschnittes einzuleiten. Wenn wir davon ausgehen, daß barocke Musik oft in 4-Taktgruppen geordnet ist, kann man auch sagen: Der übliche Platz ist im 2. und 3. Takt einer solchen Gruppe. Das Menuett I besteht insgesamt aus 6 solcher 4-Taktgruppen. Eine davon, die allerletzte, ist eindeutig eine Hemiole, eine (die erste des zweiten Teiles) ist eindeutig keine. Alle anderen funktionieren sowohl als normale 3er Takte oder als Hemiole. Bei der ersten 4-Taktgruppe des Menuett I ist das gut zu hören, ich spiele sie beim ersten Mal als normale Dreiertakte, bei der Wiederholung dann als Hemiole.

Im Kontext der 2. Suite wird das dadurch interessant, daß die Hemiole eine Schlußformel ist, daß Bach hier aber einen Satz mit einer solchen Schlußformel beginnt.

Die Frage, wann etwas anfängt und wann es aufhört ist in re-fraction:shadows von Reiko Füting in den Verlauf der Komposition verlagert. Das Stück besteht aus zwei großen Teilen und einem kleinen Anhang. Im Prinzip sind diese beiden Teile gleich, jedoch wird der erste Teil im zweiten Teil sozusagen kommentiert und überschrieben. Die Grundcharakteristik des ersten Teiles ist sehr massiv - und auch da, wo er leise ist, statisch, nämlich meist mit lang ausgehaltenen Tönen. Bereits kurz vor Ende des ersten Teiles kommt ein ganz neues Element hinzu, eine leise zarte und bewegte Figur aufwärts.

Dieses Element ist im zweiten Teil dann für die Überschreibung zuständig. Fast der ganze 1. Teil taucht wieder auf, einzelne Noten sind jetzt durch die neuen Figuren ersetzt, teilweise sind sie zwischen Takte des ursprünglichen 1. Teiles eingefügt. Man kann es sich gut wie ein Bild vorstellen, das man noch einmal sieht, allerdings hat jemand noch etwas darüber gemalt.

In der sehr kurzen Coda schließlich, gibt es fast nur noch die aufsteigende Figur. Vom Material des ersten Teiles ist nur der Anfangston erhalten geblieben.

Aber was ist dann der Anfang, und was das Ende? Ist der 1. Teil das echte Stück und der zweite "nur" eine Erweiterung? Oder ist der 2. Teil das Eigentliche und der Erste nur eine Vorstufe? Und dann gibt es noch zwei andere Erweiterungen: re-fraction:shadows Palimpsest 1 für Cello mit Violine, in der der Cellopart genau dem Solo entspricht und die Violine eine weitere Überschreibung macht. Und schließlich re-fraction:shadows Palimpsest 2, bei dem auch noch ein Klavier hinzukommt. Wo ist das Komponieren zu Ende? Und wenn man so weit nach hinten hinaus gedacht hat, stellt sich die gleiche Frage auch nach vorne: Ist der Anfang des bestehenden Stückes wirklich der erste Teil? Oder gibt es einen davorliegenden 1. Teil, von dem wir nur eine Überschreibung hören?

Anfang und Ende bleiben bei Füting in dem Sinne offen, daß wir nur sagen können, sie seien Anfang und Ende dessen, was im Stück erklingt. Aber sie sind jedenfalls nur ein Ausschnitt aus einem Gesamtgeschehen.

In Fehlversteck von Friedemann Schmidt-Mechau wird die Frage, wann etwas anfängt beziehungsweise aufhört auf den ganzen Rahmen der Entstehung und Aufführung eines Stückes ausgedehnt.

Zur Entstehung von Musik gehört, daß der Komponist Noten schreibt, der Interpret sie spielt. Das heißt, die Arbeit des einen endet, die des anderen fängt an, sobald alle Noten geschrieben sind. Im Prinzip ja. Aber wenn das schon gewöhnlich nur eingeschränkt gilt, so hier gar nicht mehr. Nach bestimmten Regeln bestimmt der Interpret passend zum Aufführungstag eine Abfolge der Zahlen 1-12. Diese werden in den unterschiedlichen Sätzen immer wieder neu definiert. Im 1. und 2. Satz werden Klänge nach ihnen geordnet, im 3. Satz bestimmen sie eine Abfolge von Aktionen, im 4. die Anzahl von Ereignissen und im 5. schließlich Abstände zwischen Tonhöhen. Der erste Schritt bei der Festlegung dieser Reihe ist es, den nächsten Tag mit einer Primzahl zu finden. Es ist also nicht jeden Abend eine andere Fassung, im Rahmen der Bach.heute-Konzerte im Mai 2008 gab es aber zwei unterschiedliche Fassungen. Die Arbeit des Interpreten beginnt dann damit, Noten zu schreiben. In manchem ist er dabei ganz festgelegt, teilweise gibt es aber auch Freiräume.

Noch einmal weiter zugespitzt ist das im 4. Satz. Wie gesagt, bestimmt hier die Zahlenreihe die Anzahl von Ereignissen. Auf dem Notenblatt stehen 12 gezupfte Aktionen, die zwölfmal jeweils links oben zu beginnen sind. Von den einzelnen Aktionen gibt es dann zwischen 2 und 6 Möglichkeiten, zu anderen Aktionen fortzuschreiten, vorgegeben ist nur die Anzahl des jeweiligen Durchganges und daß es keine direkte Wiederholung geben darf. Natürlich könnte man das vor der Aufführung entscheiden und auch von diesem Satz Noten für die jeweilige Fassung schreiben. Diesen von der Komposition vorgegeben Freiraum aber einzuschränken wäre inkonsequent. In diesem Satz gibt es also gar kein Ende des Komponierens und Anfangen des Spielens mehr, sondern beides passiert gleichzeitig. Der letzte Schritt des Komponierens, nämlich die Auswahl der jeweiligen Felder, ist bereits die Aufführung.

Der 3. Satz besteht aus zwölf vorgegebenen Spielposituren, die der Interpret stumm einnehmen und jeweils einige Sekunden halten soll. In ihrer Eindeutigkeit verunklaren sie wiederum Anfang und Ende, nämlich in der Frage, wie weit das Sehen beim Hören ebenfalls eine Rolle spielt. Da von diesem Satz nichts zu hören ist, werden auf der CD die 12 Beschreibungen in der Reihenfolge der Konzertfassung vorgelesen.

Die Infinite Melody #4 von Tom Johnson lädt noch einmal zu einem Exkurs zu Bach ein: Im Prélude gibt es gegen Ende eine Stelle, an der das Stück auf einer Fermate, einem ausgehaltenen Ton jenseits des durchlaufenden Metrums, zur Ruhe kommt. Von den 5 darauffolgenden Takten ist der fünfte mit dem ersten identisch, nur eine Oktave tiefer. Offenbarung des Johannes 22,13: "Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende." Auch wenn die Suiten weltliche Musik sind, ist bei Johann Sebastian Bach ein theologischer Bezug sicher immer als gegeben vorauszusetzen. Auch hier haben wir es mit Anfang und Ende zu tun, diesmal aber ist nicht das Ende des einen schon der Anfang des nächsten, sondern Anfang und Ende eines Abschnittes sind dasselbe. Das A und das O, das ist das Umfassende, die Unendlichkeit. Und genau das spielt bei Tom Johnson eine Rolle. Seine Infinite Melodys, Unendliche Melodien, von denen es 4 Stück gibt, können sich unendlich ausdehnen. Johnson sagt, daß es viele Arten von Unendlichkeit gibt. Etwa kann man eine Saite auf eine unendliche Zahl von Tonhöhen stimmen. Diese Unterschiede kann man nicht alle hören, da die menschliche Wahrnehmung immer rastert. Aber wir wissen doch davon. Allen Infinite Melodys gemeinsam ist, daß ihre Modelle immer länger und immer höher werden. Das heißt, wenn man sie lange genug spielen würde, käme man natürlich in einen Bereich, in dem man sie nicht mehr hören kann. Unsere Wahrnehmung würde auch hier eine Einschränkung bilden, die aber den Melodien egal ist, sie können trotzdem weitergehen. Und wenn man einfach in Frequenzen denkt, gäbe es nach einer langen Phase des Nicht-Wahrnemen-Könnens irgendwann eine Zone, in der wir sie als Licht sehen könnten.

Hier kann man klar sagen, wo es anfängt, aber definitiv nicht, wo es aufhört.

Die Wechselwirkungen in Titel des Stückes von Nicolaus A. Huber sagen schon, wieso dieses Stück in dieses Programm gehört. Unser ganzes Leben basiert auf Wechselwirkungen. Im Makrokosmos ist das etwa die Gravitation, eine Wechselwirkung zwischen Massen, die das Weltall zusammenhält. Im Mikrokosmos genauso. Die moderne Physik lehrt, daß unsere Vorstellung von Teilchen, die sich irgendwie im Raum bewegen falsch ist. In Wirklichkeit verwandeln sie sich ständig, spalten sich auf und versammeln sich wieder, so daß sich aus den Wechselwirkungen der einzelnen Stadien nach außen hin für uns immer wieder das ursprüngliche Teilchen ergibt. Aber auch im menschlichen Zwischenbereich beruht alles auf Wechselwirkungen. Kommunikation etwa funktioniert nur durch Wechselwirkungen.

Was nun sind die Wechselwirkungen bei Huber: Zum einen gibt es eine Zeitstruktur über das ganze Stück. Der 4. Satz dauert dreimal so lange, wie die ersten drei zusammen. Der 5. Satz so lange wie der längste der ersten drei plus die Differenz zwischen dem längsten und dem kürzesten der ersten drei Sätze. An sich ist eine solche Struktur nichts Besonderes. Aber es bedeutet immer, daß Änderungen (hier: der Dauer) Konsequenzen für Anderes haben. Wichtig dabei ist auch, daß Huber mathematisch gesprochen Addition, Multiplikation und Subtraktion benutzt (Division nur im Rückblick), daß Wechselwirkungen also in verschiedene Richtungen möglich sind.

Die ersten beiden Sätze betreffen Wechselwirkungen zwischen Publikum und Komponist. Ist im ersten Satz sozusagen das Publikum Komponist, so im zweiten der Komponist Publikum. Huber bezieht sich beide Male auf Erlebnisse bei den Kammermusiktagen in Witten.

Im 4. Satz stellt Huber jeweils einzelne Parameter des Tones in den Vordergrund, die bei gewöhnlichem Spiel alle miteinander verbunden sind, also wechselwirken. Insbesondere ist das die Dauer, die dadurch in den Vordergrund gestellt wird, daß sich bei Tönen nichts außer ihrer Dauer ändert. Damit verbunden aber auch z.B. die Dynamik, die jenseits üblicher Entwicklungen für einzelne Töne deutlich hörbar komponiert ist, etwa ganz am Anfang beim ersten sehr hohen (Flageolett-)Ton, der eine Zeit lang leise ist, um dann plötzlich lauter zu werden.

Etwas weiter im Stück gibt es eine Stelle bei der wiederum Flageolette eine Rolle spielen: Jeder gewöhnliche Ton besteht aus vielen Teiltönen. In der Tat wechselwirken diese untereinander so, daß man den Grundton auch dann hören kann, wenn er gar nicht erklingt. Huber macht es anders herum: Der Grundton wird laut angestrichen und als Wechselwirkung von nachklingendem Ton und dem auf die Saite gelegten Finger, wird einer dieser Teiltöne herausgefiltert.

Im 5. Satz schließlich setzt sich das fort, in einer Selbstbesichtigung der Saiten, die die Grundtöne markieren, von denen aber immer nur Teiltöne erklingen.